18.05.20 Der Visionär des Wasserstoffs Autor*in: Dariush Jones • Lesedauer: 6 min.

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Zusammenfassung

Am 9. Januar 2020 titelte die britische Zeitung „Independent": „2019: Aufschwung der Windkraft und Zusammenbruch der Kohle.“ Demnach wurden im vergangenen Jahr mehr als 20 Prozent des Stroms in Großbritannien mit Windkraft erzeugt, mit Kohlekraft dagegen nur zwei Prozent. Bereits vor knapp einem Jahrhundert hat ein britischer Wissenschaftler den Vormarsch der Windkraft und den Einbruch der Kohle vorhergesehen. Er sagte auch voraus, dass der ideale Partner der erneuerbaren Energien der Wasserstoff sein würde.

Am 4. Februar 1923 hielt der britische Biologe J. B. S. Haldane vor der Cambridge Heretics Society einen Vortrag über die Zukunft der Wissenschaft. Haldane (1892-1964), damals schon ein profilierter Professor für Biochemie an der Universität Cambridge, sollte später den genetischen Code der Hämophilie und Farbenblindheit entschlüsseln und den Begriff „Klon“ prägen. Das Hauptthema seines Vortrags – die möglichen Vorteile einer selektiven Menschenzucht – hatte nichts mit Energie zu tun. Aber in einer Nebenbemerkung machte Haldane aus dem Stegreif eine Vorhersage über das künftige Energiesystem Großbritanniens. Zunächst wies er darauf hin, dass die heimische Kohle und das Öl zwangsläufig innerhalb weniger Jahrhunderte zur Neige gehen würden. Die Wasserkraft würde sie auf der Insel nicht ersetzen können.

J. B. S. Haldane

J. B. S. Haldane

Die Antwort liege in „unsteten, aber unerschöpflichen Energiequellen, dem Wind und dem Sonnenlicht“ und „billigen, leistungsstarken und langlebigen Batterien“, welche die schwankende Windkraft speichern und in „kontinuierliche elektrische Energie“ umwandeln würden. Eine erstaunlich genaue Prognose vor knapp 100 Jahren: Haldane hat nicht nur die grüne Energiewende vorhergesagt, sondern auch die zwei Schlüsseltechnologien (Wind und Sonne), deren Nachteil (schwankende Produktion) und eine dafür geeignete Lösung (effiziente Batterien).

J. B. S. Haldane, Universität Cambridge

Metallene Windmühlen und Oxidationszellen

Und er lief sich erst warm. Das post-fossile Großbritannien, so Haldane weiter, „wird von Reihen metallener Windmühlen bedeckt sein, die Generatoren antreiben, die ihrerseits Strom in große Hochspannungsnetze einspeisen. Dazu abgestimmt wird es große [Industrieanlagen] geben, in denen bei besonders windigem Wetter überschüssige Energie für Elektrolyse eingesetzt wird, sprich für die Umwandlung von Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff... Bei Flaute werden die Gase wieder kombiniert in Verbrennungsmotoren, die Dynamos antreiben, um elektrische Energie zu erzeugen. Eigentlich ist es wahrscheinlicher, dass die Gase in Oxidationszellen kombiniert werden.“ Ein weiterer Volltreffer: Haldane hat den großflächigen Ausbau der Windenergie genau vorhergesehen, ebenso wie die Nutzung der überschüssigen Erzeugungsmengen für die Herstellung von CO2-freiem, grünem Wasserstoff mittels Elektrolyse. Er erkannte sogar, dass für die Rückumwandlung von Wasserstoff in Elektrizität Brennstoffzellen (die er Oxidationszellen nannte) praktischer sein würden als die Verbrennung in Motoren.

J. B. S. Haldane, Universität Cambridge

Aber Haldane war noch immer nicht fertig: Unterirdische Wasserstofftanks „werden die Speicherung von Windenergie ermöglichen, so dass diese für Industrie, Verkehr, Heizung und Beleuchtung genutzt werden kann. Die Investitionskosten werden anfangs beträchtlich sein, aber die laufenden Kosten werden geringer ausfallen als die unseres gegenwärtigen Systems.“ Damit erfasste er nicht nur das, was man heute als „Sektorkopplung“ bezeichnet – die Integration des Energiesektors mit dem Verkehrs-, Industrie-, Heiz- und Kühlsektor durch die Nutzung von Strom, Wasserstoff und anderen Energiequellen –, er beschrieb zudem auch die größte Hürde für grünen Wasserstoff: die hohen Investitionen für den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur.

J. B. S. Haldane, Universität Cambridge

Sind wir fast in Haldanes Zukunft angekommen?

Noch im Laufe des Jahres 2021 wird die EU-Kommission einen Entwurf einer europäischen Richtlinie zur Entwicklung der europäischen Wasserstoffwirtschaft vorlegen, um die Nutzung von Wasserstoff zur Dekarbonisierung der europäischen Industrie zu beschleunigen. Vielleicht kann sie dazu beitragen, (um in Haldanes Worten zu sprechen) „etwas nie Gewesenes“ in „etwas Bestehendes“ zu verwandeln: eine EU-weite Wasserstoffwirtschaft auf Basis erneuerbarer Energien.


Hinweis:Der vollständige Text des Vortrags von Haldane – „Daedalus; or, Science and the Future“ – ist hier verfügbar. Der Philosoph Bertrand Russell, dem Haldanes Zukunftsvision zu optimistisch war, fühlte sich genötigt, dieser zu widersprechen. Russells Kritik galt jedoch ausschließlich Haldanes Hauptthema, nämlich der selektiven Menschenzucht, nicht dessen Vision der Energiezukunft.

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