25.04.22 Die unerschöpfliche Wärmequelle Autor*in: Mirko Heinemann • Lesedauer: 7 min.

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Zusammenfassung

Wärme wird in Deutschland im Wesentlichen noch aus fossilen Energieträgern gewonnen. Als nachhaltige Alternative bietet sich „Tiefe Geothermie“ an. Sie könnte bis 2040 ein Viertel des deutschen Wärmebedarfs decken. 

Als der Schriftsteller Jules Verne im 19. Jahrhundert seinen Roman „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ verfasste, setzte er dichterische Freiheit gegen Fakten. Denn damals wusste man bereits: Tief unter der Erde können weder Ozeane noch Pflanzen und Tiere existieren. Stattdessen ist es dort extrem heiß. Und zwar so heiß, dass schon in wenigen Tausend Metern Tiefe jedes Bohrgerät weich wird. Ab etwa 3.000 Kilometer Tiefe wird sogar Gestein flüssig. Hier beginnt der Erdkern, in dem Temperaturen von bis zu 6.000 Grad Celsius herrschen – und in dem eine gewaltige Menge Energie steckt. 

Die Wärme aus der Tiefe fasziniert die Menschheit schon seit Tausenden von Jahren – und so lange träumt sie auch davon, diese Energie für sich nutzbar zu machen. Die Römer verwendeten beispielsweise Thermalquellen zum Heizen: Im 14. Jahrhundert speiste heißes Wasser ein ganzes Fernwärmenetz im französischen Chaudes-Aigues. Diese Idee hat nie an Attraktivität verloren: Heute hängt über einem abgelegenen Tal in der Toskana der Wasserdampf aus den Kühltürmen von Dutzenden Geothermie-Kraftwerken, die teils bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Betrieb gingen. Und Island, das über zahlreiche oberflächennahe Erdwärmequellen verfügt, erzeugt mehr als 50 Prozent seiner Energie aus Geothermie. 

Auch in Deutschland wird Geothermie genutzt. Zum einen gibt es inzwischen rund 440.000 Wärmepumpen, die mittels Sonden oberflächennahe Erdwärme für die Gebäudeheizung nutzen – und nicht mit den Luft-Luft-Wärmepumpen verwechselt werden dürfen, die in beinahe jeden zweiten Neubau eingebaut werden. Diese nutzen keine Erdwärme, sondern die in der Außenluft gespeicherte Energie. Heizungen, die auf echter Geothermie basieren, trugen laut Bundesverband Geothermie im Jahr 2020 nur bei 6,3 Prozent der Neubauten zur Beheizung bei. 

Heißes Thermalwasser aus mehr als 400 Metern Tiefe

Während Oberflächennahe Geothermie bei Gebäudeheizungen eingesetzt wird, kommt für die großflächige Wärmeversorgung von Quartieren, Fernwärmenetzen oder Industrieanlagen die sogenannte „Tiefe Geothermie“ zum Einsatz. Davon spricht man, wenn die Wärme aus Schichten stammt, die mehr als 400 Meter unter der Erdoberfläche liegen. Aus diesen Tiefen lässt sich die Wärme leicht durch das natürliche heiße Thermalwasser fördern. Wenn es nicht – wie in Aachen oder im belgischen Spa – von selbst zutage tritt, kann man es über gebohrte Brunnen fördern und zur sogenannten hydrothermalen Wärmeversorgung nutzen.  

Die hydrothermale Tiefe Geothermie ist in letzter Zeit in den Fokus der Energiepolitik gerückt. Denn während die Energiewende auf dem Stromsektor Erfolge verzeichnen kann, ist eine Wärmewende noch nicht in Sicht. Aber sie wäre dringend nötig: Im Jahr 2020 machte laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) Wärme 58 Prozent des gesamten deutschen Endenergieverbrauchs aus, doch laut Umweltbundesamt stammten nur rund 15 Prozent der erzeugten Wärme aus regenerativen Quellen. Nach dem Klimaschutzplan der Bundesregierung soll bis zum Jahr 2030 die Hälfte der kommunalen Wärmeversorgung mit erneuerbaren Energien bestritten werden. Kein Wunder also, dass Projekte zur geothermischen Fernwärme- und Stromversorgung durch die KfW-Förderbank unterstützt werden. Voraussetzung ist eine Bohrtiefe von mehr als 400 Metern – Tiefe Geothermie. 

Erdwärme weist als Energiequelle ein enormes Potenzial auf, zumindest theoretisch. Doch die Erschließung der quasi unerschöpflichen Wärme kann je nach Geologie einer Region sehr aufwendig sein, weil sie umfangreiche seismologische Untersuchungen und Bohrungen erfordert. Andererseits: Ist eine geothermische Quelle erst einmal erschlossen und eine Anlage errichtet, liefert sie zuverlässig und dauerhaft Wärme. 

Geothermie-Vorreiter München

42 hydrothermale Kraftwerke nutzen derzeit in Deutschland die Tiefe Geothermie, um Fernwärme bereitzustellen oder Strom zu produzieren. Insgesamt werden so 359 Megawatt Wärme und 45 Megawatt Strom erzeugt. Die meisten Anlagen befinden sich im Voralpenland, „Süddeutsches Molassebecken“ lautet die geologische Bezeichnung für diese Region. Vor allem die Geothermie-Kraftwerke der Stadtwerke München gelten als beispielhaft. Fünf sind bereits in Betrieb, das sechste im Heizkraftwerk Süd läuft im Probebetrieb. Es wird mit 80 Megawatt Leistung Deutschlands größtes Geothermie-Kraftwerk sein. Ein siebtes Geothermie-Kraftwerk ist bereits in Planung (siehe auch das Interview mit den Stadtwerken München). 

Anfang der 2030er-Jahre wollen die Stadtwerke München mithilfe der CO2-neutralen Quellen Geothermie und thermische Reststoffverwertung bis zu 70 Prozent der gesamten Fernwärme für die Stadt München bereitstellen. Den Geothermie-Ausbau noch weiter zu beschleunigen, ist nach Unternehmensangaben aber kaum möglich. Denn die Kapazitäten der hoch spezialisierten Bohrfirmen seien knapp, die Unternehmen über Jahre hinweg ausgebucht. Immerhin bis zu 4.000 Meter tief muss man in München bohren, um die wasserführenden Schichten mit Temperaturen von ungefähr 90 Grad Celsius zu erreichen. 

Das Beispiel München zeigt, dass die hydrothermale Tiefe Geothermie zuverlässig und geräuscharm funktionieren kann. Im pfälzischen Landau hingegen gab es Mikro-Erdbeben, nachdem ein Erdwärme-Kraftwerk in Betrieb gegangen war. In Basel versuchte ein petrothermales Geothermieprojekt, Wärme aus tiefen Gesteinsschichten zu fördern, konnte den Betrieb aber nicht bebenfrei sicherstellen. Auch die weit verbreitete Oberflächennahe Geothermie bis 100 Meter sorgte bereits für Schlagzeilen: Im baden-württembergischen Staufen, einer Kleinstadt nahe Freiburg, hatte man entschieden, das Rathaus mit Erdwärme zu beheizen. Bei der Bohrung 2007 wurde bereits in 100 Metern Tiefe eine Anhydritschicht durchstoßen und Kontakt mit Grundwasser hergestellt. Seitdem verwandelt sich das Anhydrit in Gips. Die Folge: Die Erde unter der Altstadt wölbt sich auf. Bisher zeigten sich bei 270 Häusern Risse, und es treten noch immer neue Schäden auf. Ähnliche Probleme gab es 2009 nach Erdwärmebohrungen im nahe gelegenen Böblingen, wo 80 Häuser durch Risse beschädigt wurden. Nach einem Dutzend solcher Vorfälle hat das Land Baden-Württemberg die Richtlinien für oberflächennahe Geothermie-Bohrungen verschärft. 

Großes Geothermie-Potenzial in Deutschland

Gemessen an den bundesweit erfolgten rund 440.000 oberflächennahen Geothermie-Bohrungen sei die Unfallrate gering, findet Professor Rolf Bracke, Leiter der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG. Die Oberflächennahe Geothermie habe bewiesen, dass sie am Markt bestehen kann. Daher erforscht er mittlerweile verstärkt die hydrothermale Tiefe Geothermie. Gemeinsam mit Professor Ernst Huenges vom Deutschen Geoforschungszentrum GFZ hat er eine Studie herausgeben, die darlegt, wie die Rolle der Geothermie im Rahmen der Wärmewende gestärkt werden könnte. Die „Roadmap Tiefe Geothermie“ beziffert das Potenzial geothermischer Energie in Deutschland auf mehr als 300 Terawattstunden (TWh) pro Jahr. Das wäre ein Viertel des deutschen Wärmebedarfs. Neben der Nutzung von hydrothermalen Quellen der Tiefen Geothermie sind hier auch die Potenziale einer Hochtemperatur-Speicherung im Boden und der Grubenwasser-Nutzung mit eingerechnet. Dabei wird im Sommer überschüssige Wärme in einem Aquifer – einer wasserführenden Schicht im geologischen Untergrund – gespeichert und im Winter als Heizwärme genutzt. 

Nicht einberechnet sind in der Studie die Potenziale der sogenannten petrothermalen Geothermie. Im Gegensatz zur hydrothermalen Geothermie, bei der heißes Thermalwasser nach oben gefördert wird, wird bei petrothermalen Systemen Wasser von oben in das bis zu 200 Grad Celsius heiße Gestein gepumpt. Dafür muss es aber per Fracking durchlässig gemacht werden. Diese Methode, so zeigte es auch das Beispiel Basel, genieße in der Bevölkerung allerdings kaum Akzeptanz und fließe daher in die Berechnungen nicht mit ein, so die Forscher. 

Vor allem Ballungsräume mit ausgeprägten Fernwärmenetzen und Quartiere haben Bracke und Huenges als Geothermie-Nutzer im Visier. Erdwärme-Kraftwerke seien dabei „ohne Einschränkung grundlastfähig“, könnten also konstant Wärme produzieren. Auch für die Nutzung in wärmeintensiven Industriebetrieben komme Tiefe Geothermie infrage: So plant etwa ein Papierhersteller in Hagen, seine Trocknungsprozesse mittels Erdwärme durchzuführen. Generell mahnen die Forscher an, für industrielle Anwendungen die Entwicklung von Hochtemperatur-Wärmepumpen voranzutreiben. Sie sollen in der Lage sein, Temperaturen von bis zu 200 Grad Celsius aus hydrothermaler Erdwärme bereitzustellen.  

Nach dem Bau fließt die Wärme quasi gratis

Vor dem bundesweiten Hochlauf der Geothermie seien noch organisatorische und rechtliche Fragestellungen zu klären, vor allem im Umwelt- und Grundwasserschutz. Die Kosten beziffern die Wissenschaftler je nach erforderlicher Bohrtiefe auf etwa 2 bis 2,5 Milliarden Euro pro Gigawatt Wärmeleistung. Die Wärmegestehungskosten – also die Kosten, die bei der Erzeugung und Verteilung von Wärme entstehen – sind laut Experten hingegen schwer zu beziffern, da sich die Investitionskosten je nach Standort und Bedingungen vor Ort stark unterscheiden können. Klar ist: Ist ein Geothermie-Kraftwerk erst einmal in Betrieb, wird die dort erzeugte Wärme immer günstiger, denn sie fließt quasi gratis. Dennoch geht die Roadmap Tiefe Geothermie davon aus, dass die Gestehungskosten bei Erdwärme trotz der Einführung der CO2-Bepreisung auch nach 2030 oberhalb des fossilen (Erdgas-)Fernwärmepreises liegen werden. Somit müsste Geothermie staatlich gefördert werden. 

Um die Potenziale der Tiefen Geothermie zu heben, soll die Politik nach Meinung der Wissenschaftler schnellstmöglich Ausbauziele vorgeben, Explorationsprogramme auflegen und klären, mit welchen Instrumenten das Risiko von Fehlbohrungen gemindert werden kann. Dann könnte in 20 Jahren ein Viertel der klimaneutralen kommunalen und industriellen Wärme aus Tiefer Geothermie stammen. 

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