Wilhelmshaven bereitet sich mit Hochdruck auf die Ankunft eines ganz besonderen Schiffes vor. Bautrupps rammen im Akkord 50 Meter lange Stahlpfähle ins Hafenbecken, um einen 370 Meter langen Anleger zu konstruieren. An ihm soll das 100.000 Tonnen schwere Wasserfahrzeug demnächst festmachen. Allerdings handelt es sich nicht um ein normales Schiff, sondern eher um eine Fabrik: In Wilhelmshaven geht ein schwimmendes Terminal für Flüssigerdgas vor Anker.
Der Energieträger, LNG abgekürzt (für Liquefied Natural Gas), wird von speziellen Frachtern angeliefert, im Terminal wieder in gasförmigen Zustand gebracht und dann ins normale Ferngasnetz eingespeist. Schon im November soll das Terminal seinen Betrieb aufnehmen. Dafür wurden Genehmigungsverfahren beschleunigt und die Wartezeiten bei den Behörden verkürzt. „Einen solchen Sprint hat es so noch nie gegeben, normalerweise dauern Vorhaben dieser Art deutlich länger“, sagt Björn Munko vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW), Bonn.
LNG statt russisches Erdgas
Die Eile hat energiepolitische Gründe. Denn LNG soll Deutschland dabei helfen, von russischem Gas unabhängig zu werden. Neben dem Terminal in Wilhelmshaven werden derzeit drei weitere Entladepunkte eingerichtet. Wirtschaftsminister Robert Habeck selbst hat im Mai die Pachtverträge für die schwimmenden Terminals unterzeichnet (sie werden unter anderem von Uniper betrieben). Die Anlage in Wilhelmshaven allein kann so viel Flüssigerdgas entladen, dass sich damit 8,5 Prozent des deutschen Gasbedarfs decken lassen. Doch ist auf dem Weltmarkt überhaupt genug LNG verfügbar, um die Gaswende zu schaffen? Und welchen Preis wird die Autonomie haben?
Technische Hürden gibt es nicht – obwohl LNG ein relativ neuer Energieträger ist. Erst Ende der 1950er-Jahre wurde zum ersten Mal Flüssigerdgas aus den USA nach Großbritannien verschifft. Heute kreuzen über 400 der Spezialfrachter die Weltmeere. Manche lassen sich an den riesigen kugelförmigen Tanks erkennen, in denen das Erdgas lagert. Es wurde zuvor bei minus 162 Grad verflüssigt, wodurch sich sein Volumen um das 600-fache verringert. Dadurch ist ein einzelner Frachter in der Lage, eine 2-Millionen-Metropole fast ein ganzes Jahr lang mit Energie zu versorgen. Am Zielort angekommen wird das LNG verdampft (regasifiziert) und ins normale Netz eingespeist. „Die Technik ist ausgereift“, urteilt Professor Thomas Kolb, Experte für chemische Energieträger am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
LNG seit Jahren im Aufwind
Der Aufschwung von LNG begann schon vor Jahren und wird durch den Ukraine-Krieg nur verstärkt. Zwischen 2010 und 2019 stieg die weltweite Produktion nach Angaben des Energiekonzerns BP um 26 Prozent. Das wachsende Interesse rührt daher, dass flüssiges Methan als leistungsfähige Brückentechnologie gilt: LNG kann nicht nur in der Industrie die Kohle ersetzen, sondern eignet sich aufgrund seiner hohen Energiedichte auch als Kraftstoff für Schiffe. Fast jedes dritte neue Containerschiff ist auf den Betrieb mit LNG ausgelegt – auch die LNG-Tanker verbrennen es in ihren Motoren.
Theoretisch könnte Deutschland seinen Gasbedarf leicht per Tanker decken. Dafür würden pro Jahr rund 58 Millionen Tonnen LNG benötigt – und auf dem Weltmarkt stehen in diesem Jahr 410 Millionen Tonnen zur Verfügung, schätzt der Informationsdienst Rystad Energy. Der Knackpunkt: Auch andere Länder greifen zunehmend nach LNG. Dadurch springt die Gesamtnachfrage in diesem Jahr voraussichtlich auf 436 Millionen Tonnen, übersteigt also das Angebot. Abnehmer, die zum Zug kommen wollen, müssen andere überbieten.
Kampf ums LNG
Der Kampf um LNG tobt bereits. Im ersten Quartal konnte Europa seinen Bedarf nur decken, indem man Lieferungen aufkaufte, die eigentlich für asiatische Abnehmer bestimmt waren. Diese Situation könnte sich noch verschärfen. „Auf absehbare Zeit wird die Nachfrage stärker als das Angebot steigen“, erwartet Eric Heymann, Analyst bei Deutsche Bank Research, Frankfurt, dem Thinktank des Geldhauses. Deutschland müsse in Zukunft vermutlich tiefer in die Tasche greifen, um andere Abnehmer „auszupreisen“, wie es der Ökonom ausdrückt. Das wird nicht leicht, denn zu den Konkurrenten gehören wirtschaftliche Schwergewichte wie Japan und China.
Hinzu kommt, dass LNG grundsätzlich teurer als Pipelinegas ist. Ein Blick auf den Markt vor der Corona-Pandemie zeigt den Preisabstand: Damals bezog Deutschland Pipelinegas zum Preis von 5 US-Dollar pro Million British thermal units (kurz: BTU, eine Maßeinheit für Energie). Für LNG mussten japanische Abnehmer zum gleichen Zeitpunkt fast 10 US-Dollar auf den Tisch legen. Der Preisunterschied entsteht zum Teil dadurch, dass Verflüssigung, Transport und Regasifizierung zusätzliche Kosten verursachen.
Außerdem werden zwei Drittel des produzierten LNG über den Spotmarkt oder flexible Verträge gehandelt. Das führt zu starken Preisausschlägen. In der Vergangenheit kam es sogar vor, dass ein LNG-Frachter auf dem offenen Meer seinen Kurs änderte, um einen besser zahlenden Abnehmer anzusteuern. Trotz der höheren Preise für Frachtergas muss eine Pipeline übrigens nicht unbedingt wirtschaftlicher sein. „Ab 4.000 Kilometern kann LNG aufgrund der hohen Baukosten für Leitungen tendenziell sogar günstiger sein“, betont Professor Kolb.
Kurzfristig höhere Preise möglich
Kurzfristig könnte der Umstieg auf LNG teuer werden. Sollte Russland seine Pipelines zudrehen, ist ein Preis von 100 US-Dollar pro Million BTU möglich, sagt Rystad Energy – derzeit liegt der Kurs etwa bei 20 US-Dollar. Doch auf lange Sicht sind auch sinkende Preise möglich, zum Beispiel weil ein Land wie Norwegen seine Erdgasproduktion weiter hochfährt und so für eine Entspannung auf dem Energiemarkt sorgt. „Außerdem existieren noch unerschlossene Vorkommen“, ergänzt Ökonom Heymann. Überall auf der Erde, wo es Öl- und Gasvorkommen gibt, lasse sich theoretisch auch LNG erzeugen – im Mittleren Osten, in Südamerika oder Afrika. Diese Newcomer könnten den etablierten Exporteuren Konkurrenz machen: Derzeit sind die größten LNG-Produzenten Australien, Katar und die USA, mit einigem Abstand gefolgt von Russland. Analyst Heymann warnt allerdings vor überzogenen Hoffnungen: „Es braucht Zeit, bis sich das Angebot durch neue Explorationen nennenswert vergrößert.“
Zeit ist der kritische Faktor beim Umstieg von der Pipeline auf den Tanker. Deshalb drückt die Politik beim Bau der LNG-Terminals buchstäblich aufs Gas. Bislang werden für Deutschland bestimmte Ladungen in Benelux-Terminals gelöscht. Doch deren Kapazitäten sind begrenzt, genau wie die der nachgelagerten Pipelines. Deshalb sehen Experten den Import über Zwischenländer kritisch. „Wir werden nicht den kompletten russischen Gasstrom durch LNG ersetzen können, wenn wir keine eigenen Terminals haben und nicht zusätzlich auf andere Energieträger und Einsparungen setzen“, sagt Experte Munko vom DVGW. Allein schon im Sinne der Versorgungssicherheit sei es angezeigt, eine eigene Infrastruktur aufzubauen.
Das Terminal in Wilhelmshaven kann deshalb so schnell ans Netz gehen, weil es sich um eine schwimmende Anlage handelt. Sie wird von einer Reederei gepachtet und fährt dann aus eigener Kraft zum Einsatzort. Dort muss nur ein Anleger und eine Stichpipeline zum Erdgasnetz gebaut werden. Allerdings gelten solche Floating Storage and Regasification Units (FSRU) allenfalls als Zwischenlösung. „Wenn man LNG langfristig einsetzen will, braucht man Anlagen an Land mit einem höheren Durchsatz“, erklärt Professor Kolb. Ein Beispiel: Das Terminal in Wilhelmshaven kann pro Jahr 3,4 Millionen Tonnen Erdgas in flüssigem Zustand verarbeiten – das weltweit größte LNG-Terminal im südkoreanischen Incheon hat eine Kapazität von 40 Millionen Tonnen.
LNG-Terminals auch für Wasserstoff-Derivate nutzen
Jetzt LNG-Entladestellen an der Küste zu schaffen, könnte sich auf lange Sicht allerdings doppelt lohnen, da sich die Infrastruktur teilweise auch für sogenannte Wasserstoff-Derivate eignet oder entsprechend umrüsten lässt. Sollte in Zukunft zum Beispiel Ammoniak als Energieträger importiert werden, ließe sich der Stoff auch über die neuen Terminal-Standorte ins deutsche Netz einspeisen. „Die Anschlusspipelines der Terminals sind ‚hydrogen ready‘ ausgelegt“, erklärt DVGW-Experte Munko. Tests dazu, Wasserstoff über das normale Gasnetz zu verteilen, führt sein Verband bereits durch.
Doch bis zur Wasserstoff-Wende vergehen noch viele Jahre. Der Abschied vom Russland-Gas dagegen muss möglichst sofort vollzogen werden. Gelingt er mithilfe von LNG? Die meisten Experten sind vorsichtig optimistisch. „Wenn man alle Möglichkeiten nutzt, ist das erreichbar“, sagt DVGW-Experte Munko. Zu den Möglichkeiten gehört, den Gasverbrauch zu senken und stärker andere Energieträger wie Biogas zu erschließen. Ökonom Heymann hält die „Brücke Flüssiggas“ ebenfalls für belastbar, sieht aber große Herausforderungen. „Allein die deutsche Chemie-Industrie verbraucht fünfmal so viel Gas wie ganz Dänemark. Dafür neue LNG-Quellen zu finden, wird alles andere als ein Selbstläufer.“