Auf den ersten Blick sieht der Wohnblock in Bochum-Weitmar aus wie jeder andere. Doch zwischen den Mietshäusern aus den 1960er- und 1970er-Jahren sticht ein moderner Flachbau heraus. Er hat große Fenster, die den Blick auf allerlei Technik im Innern freigeben – und auf die Zukunft. Denn bei dem Gebäude handelt es sich um eine neuartige Energiezentrale. Sie soll unter anderem Solarstrom, der auf den Dächern erzeugt wird, speichern und an die verschiedenen Verbraucher verteilen.
Dabei kann die Zentralsteuerung vieles intelligenter organisieren, zum Beispiel das Laden von E-Autos: Normalerweise wollen alle Fahrzeugbesitzer sofort Strom tanken, wenn sie abends nach Hause kommen. Doch das führt zu kurzfristigen Lastspitzen, sodass zusätzlicher Strom aus dem öffentlichen Netz gebraucht wird. Die intelligente Energiezentrale dagegen würde die Fahrzeuge nachts aufladen – und zwar nacheinander. So ließe sich einfacher lokal erzeugter und gespeicherter Strom verwenden. Die ersten Solarzellen sind in Bochum-Weitmar schon installiert, und noch in der aktuellen Heizperiode will der Eigentümer des Wohnblocks, das Unternehmen Vonovia, die Energiezentrale in Betrieb nehmen. Sie soll dafür sorgen, dass der Wohnblock in Zukunft 25 Prozent des Stroms und 60 Prozent der Wärme selbst erzeugt.
Solche Selbstversorgungs-Inseln werden künftig in immer mehr Städten entstehen – weil sie gut fürs Klima sind. Experten schätzen, dass eine Wohnanlage ihren CO2-Ausstoß allein durch eine Zentralsteuerung um bis zu 20 Prozent reduzieren kann. Dieses sogenannte Quartier-Energiemanagement senkt zugleich die Nebenkostenrechnungen der Bewohner und bringt die Energiewende als Ganzes voran. Denn wenn Stromangebot und -nachfrage lokal ausgeglichen werden, braucht es weniger neue Leitungen, um Windstrom von der Küste ins Inland zu bringen; außerdem spart man sich Kraftwerkskapazitäten für Verbrauchsspitzen.
Optimierung des Gesamtsystems
Die Stärke des Quartier-Energiemanagements liegt darin, dass das ganze System optimiert wird, nicht nur seine Einzelteile. „So rücken Lösungen in den Blick, die bei Einzelgebäuden nicht möglich sind oder sich nicht lohnen“, sagt Clemens Felsmann, Professor an der Technischen Universität Dresden. Welche Vorteile eine Gesamtsteuerung bringt, zeigt zum Beispiel die neue Hausboot-Siedlung Schoonschip im Norden Amsterdams. Alle 30 schwimmenden Gebäude dort sind mit einer Photovoltaikanlage auf dem Dach und einer Hausbatterie ausgestattet. Jedes Hausboot allein schafft es allerdings nur selten, sich komplett selbst mit Energie zu versorgen. Der Anlage als Ganzes dagegen gelingt es fast immer – wiederum dank einer Zentralsteuerung mit Überblick. Sind die Bewohner von Haus A zum Beispiel im Urlaub, während im Haus B eine Party steigt, wird der von A erzeugte Strom zu den Nachbarn umgeleitet, sodass möglichst wenig Strom vom Netzbetreiber bezogen werden muss. Dank der Steuerung, die das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM entwickelt hat, kommt die Hausbootsiedlung mit einem 137-Kilowatt-Netzanschluss aus. Bei einer Siedlung dieser Größe sind 435 Kilowatt üblich.
Mit Wasserstoff für den Winter vorsorgen
Um lokales Energiemanagement betreiben zu können, muss zunächst jedoch das Speicherproblem gelöst werden. „Die große Herausforderung liegt darin, dass Energie oft erzeugt wird, wenn man sie gerade nicht braucht – oder umgekehrt“, erklärt Dr. Dirk Pietruschka, Geschäftsführer der Firma Enisyst in Pliezhausen. Sie entwickelt sogenannte Quartier-Energiemanagement-Systeme (QEMS), also Software, die alle Energieflüsse in einer Wohnanlage zentral regelt. Ein typisches Problem, das dabei auftaucht: Solarzellen auf dem Dach produzieren mittags auf Hochtouren, gebraucht wird der Strom jedoch vor allem abends, wenn in vielen Haushalten Herd, Waschmaschine und Fernseher laufen. Die zentrale Steuerung muss also Energie „zurücklegen“.
In Bochum-Weitmar geschieht das unter anderem mit Wasserstoff. In der gläsernen Energiezentrale steht ein Elektrolyseur, der den Solarstrom von den Dächern verwendet, um Wasserstoff zu produzieren. Das passiert vor allem im Sommer, wenn mehr Strom produziert als verbraucht wird. Im Winter läuft der Prozess umgekehrt: Dann wird der in der Energiezentrale gespeicherte Wasserstoff mithilfe einer Brennstoffzelle wieder in Strom verwandelt, der zum Beispiel Wärmepumpen versorgt. Daneben sollen Speicherbatterien für die direkte Wärmeversorgung zum Einsatz kommen, die über ein Nahwärmenetz alle Häuser versorgt. Theoretisch können auch Gebäude selbst als Speicher fungieren: Sieht ein QEMS zum Beispiel in der Wettervorhersage, dass eine besonders kalte Nacht bevorsteht, könnte es schon mittags alle Räume leicht vorheizen. „Ein halbes oder ein Grad wird von den Bewohnern in der Regel als nicht störend wahrgenommen“, betont Pietruschka.
E-Autos als dezentrale Speicher
Theoretisch könnte die Zentralsteuerung sogar die Elektroautos der Quartiersbewohner als Speicher verwenden, schließlich stehen private Pkw in der Regel 95 Prozent des Tages ungenutzt auf ihrem Parkplatz. Auf dem Werkgelände des italienischen Herstellers Fiat wird dieses Konzept namens „Vehicle to Grid“ (V2G) schon getestet: Bis zu 700 Fahrzeuge sollen hier in Zukunft als Puffer für das lokale Stromnetz dienen. Die Gemeinde Wüstenrot bei Heilbronn plant ebenfalls, Autos als Speicher einzusetzen. Allerdings gibt es noch einige Hürden zu nehmen: Nur wenige E-Modelle sind bislang dafür ausgelegt, Strom ins Netz abzugeben – und so mancher Autobesitzer fürchtet übermäßigen Akkuverschleiß.
Das Zauberwort beim lokalen Energiemanagement heißt: vorausschauend. Ein QEMS balanciert Angebot und Nachfrage nicht nur punktuell aus, sondern blickt immer in die Zukunft. „Der Trick besteht darin, den Zufall aus dem System zu nehmen“, erklärt Karsten Schmidt, Gründer des Münchner Unternehmens Ampeers Energy, das die Steuerungssoftware für die Energiezentrale in Bochum-Weitmar entwickelt hat. Sie schaut sich unter anderem die Wettervorhersage an und leitet daraus ab, wie viel Strom in den kommenden Stunden oder Tagen vermutlich erzeugt oder verbraucht wird. Droht beispielsweise eine bewölkte Phase, leitet es mehr Energie in die Speichersysteme. Außerdem analysiert das System historische Verbrauchswerte, erkennt Muster und reagiert entsprechend. Naht zum Beispiel ein Feiertag, werden die Stromspeicher ebenfalls vorsorglich aufgeladen, da sich dann erfahrungsgemäß mehr Menschen in den eigenen vier Wänden aufhalten – und Strom verbrauchen.
KI-gestützte Prognosen
Herkömmliche Algorithmen können die komplizierte Prognosearbeit nicht stemmen. Deshalb kommt im Energiemanagement zunehmend Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz. Ampeers Energy setzt eine KI ein, die ununterbrochen Prognosen jeweils für die kommenden sieben Tage, 24 Stunden und 15 Minuten erstellt. Die Berechnungen sind so aufwendig, dass sie in ein externes Rechenzentrum ausgelagert werden, und selbst das arbeitet fast eine halbe Minute an der 15-Minuten-Vorhersage – ein normaler PC bräuchte dafür 15 Minuten!
Am besten kann das Gehirn der Wohnanlage seinen Job machen, wenn es von den Bewohnern unterstützt wird. In der niederländischen Hausbootsiedlung Schoonschip zum Beispiel hat das QEMS Einblick in deren Terminkalender. Das ermöglicht eine perfekte Voraussteuerung: Fährt ein Bewohner zum Beispiel in den Urlaub, wird seine Heizung frühzeitig heruntergedreht und der auf seinem Dach erzeugte Solarstrom zu den Nachbarn umgeleitet. So rückt der Traum vom autarken Quartier in Zukunft immer näher. „Durch vorausschauende Steuerung kann der Anteil der lokalen Eigenversorgung auf bis zu 70 Prozent erhöht werden“, schätzt Experte Pietruschka.
Über die Frage, wie stark die Bewohner ins Energiemanagement eingebunden werden sollten, streiten Experten noch. Eine Fraktion wünscht sich ein System, von dem die Menschen nichts spüren, eine andere will sie aktiv einbinden. Möglich wäre zum Beispiel, dass jeder Bewohner über eine App mit dem Hirn der Wohnanlage in Verbindung steht. Kommt es zu einem Stromüberschuss, könnte das QEMS dann zum Beispiel eine Direktnachricht verschicken: „Gerade ist Strom günstig: Stellen Sie Ihre Waschmaschine an.“
Juristische Klimmzüge nötig
An Visionen zur dezentralen Energieversorgung mangelt es nicht, doch der Weg dorthin ist lang und hinternisreich. „Hier sind mitunter juristische Klimmzüge nötig“, schmunzelt Volker Stockinger, Professor für Energiegerechtes Bauen und Gebäudetechnik an der Technischen Hochschule Nürnberg. Zu den Hindernissen gehört, dass der Gesetzgeber momentan nicht erlaubt, Strom von einer Wohnanlage an eine andere zu verkaufen, wenn dazwischen eine Straße liegt. Außerdem machen unterschiedliche Eigentumsverhältnisse das Handeln auf Quartiersebene schwierig. „In einem Pilotprojekt mussten deshalb in jeden Haushalt zwei Leitungen verlegt werden“, berichtet Stockinger.
Ein weiterer Bremsfaktor ist, dass sich Quartier-Energiemanagement nur gut in Neubauten realisieren lässt. Dann können zum Beispiel von Anfang an Fußbodenheizungen eingebaut werden, die zusammen mit Wärmepumpen für einen niedrigen Energieverbrauch sorgen. Bestandsimmobilien dagegen lassen sich nur schwer nachrüsten. „Es fehlen ja schon die Datenleitungen, um alle Komponenten zu verbinden“, gibt Experte Pietruschka als Beispiel. Fazit der Profis: Quartier-Energiemanagement rechnet sich momentan ohne Fördermittel noch nicht – es sei denn, die möglichen Klima-Spätfolgen werden mit einkalkuliert. Dabei ist die Vision vom Quartier, das ohne Anschluss ans öffentliche Netz auskommt, durchaus realistisch – sogar im kalten und wolkigen Europa. „Die Technologie ist verfügbar“, betont Experte Felsmann von der TU Dresden. „Autarkie ist nur noch eine Frage von Platz und Kosten.“