Am 31. August 2022 um 3 Uhr nachts strömte zum letzten Mal Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Dann drehte die russische Betreibergesellschaft Gazprom den Hahn endgültig zu. Seitdem liegen 1.200 Kilometer Röhren ungenutzt – und nach einem wenige Wochen später verübten Sabotageakt zudem unbrauchbar – am Boden der Ostsee. Und die deutsche Energiepolitik ist im Alarm-Modus: An der Küste entstehen im Rekordtempo Terminals für Flüssigerdgas, das bald aus den USA, Algerien oder Katar kommen soll. Gleichzeitig forciert die Bundesregierung den Ausbau der Erneuerbaren, um schneller unabhängig von Importen zu werden. Doch reichen diese Maßnahmen aus, um das russische Gas zu ersetzen? Und wie könnte der Energiemix in Zukunft aussehen?
Eines hat die aktuelle Energiekrise bereits bewirkt: Zwischen Januar und September sank der deutsche Erdgasverbrauch um 12 Prozent – für den trägen Energiemarkt ein bemerkenswerter Rückgang. Die Lücke bei der Primärenergie haben vor allem Steinkohle (plus 11,9 Prozent), Braunkohle (plus 8 Prozent) und Mineralöl (plus 5,2 Prozent) gefüllt, wie Daten der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen zeigen. Auch die Erneuerbaren konnten in den ersten neun Monaten um 4,2 Prozent zulegen. Das ist zwar überwiegend auf höheres Windaufkommen zurückzuführen, dennoch scheint buchstäblich Wandel in der Luft zu liegen. „Industrieunternehmen – zum Beispiel Automobilzulieferer – investieren gerade massiv in Erneuerbare, um sich vom Kostendruck durch volatile Energiemärkte zu entlasten“, beobachtet Folker Trepte, Energieexperte bei der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC.
Noch immer stark von Gas abhängig
Noch hängt Deutschland aber am Gashahn. Täglich strömen Millionen Kubikmeter Erdgas durch Pipelines zu uns – nur dass es jetzt nicht mehr aus Russland stammt, sondern überwiegend aus Norwegen oder den Niederlanden. Deutschland deckt 23,6 Prozent seines Primärenergiebedarfs mit Gas, nur Mineralöl (34,8 Prozent) ist noch wichtiger. Das Einzige, was sich wirklich verändert hat, sind die Preise: Statt 6,7 Milliarden Euro gibt Deutschland jetzt zehn Milliarden Euro pro Monat für Erdgas aus – obwohl sich die Importmenge laut Statistischem Bundesamt zwischen Januar und August etwa halbiert hat.
Als kurzfristiger Ersatz für russisches Pipelinegas wird vor allem Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) gehandelt. Am 15. November wurde die erste LNG-Entladestelle in Wilhelmshaven fertiggestellt. Über sie allein könnten 8,5 Prozent des deutschen Gasbedarfs eingespeist werden, und insgesamt sechs Terminals an vier Standorten sollen nächstes Jahr den Betrieb aufnehmen. An Entladekapazitäten mangelt es also künftig nicht, und auch Engpässe beim LNG könnten bald der Vergangenheit angehören. „Länder wie Argentinien oder Mexiko könnten in die Förderung einsteigen, das wird das Angebot vergrößern“, erwartet Eric Heymann, Energieexperte bei Deutsche Bank Research, Frankfurt am Main. Theoretisch gibt es genug LNG auf der Welt. Allein die USA könnten den europäischen Gasbedarf komplett decken, schätzt das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“.
Experten warnen allerdings davor, russisches Pipelinegas eins zu eins durch LNG aus den USA zu ersetzen. „Die CO2-Bilanz würde sich verschlechtern“, sagt Detlef Stolten, Professor am Forschungszentrum Jülich. Seiner Meinung nach ist besonders der sogenannte Schlupf problematisch: Bei der Ausbeutung von Gasvorkommen mit der Fracking-Methode gelangt durch Lecks und Verdunstung Methan in die Atmosphäre. Die Mengen sind zwar relativ gering, doch das Gas hat einen 30-mal stärkeren Treibhauseffekt als Kohlendioxid. „Mit amerikanischem LNG zu heizen, ist für das Klima wie mit Kohle zu heizen“, meint Stolten.
Gas überbrückt „Dunkelflauten“
Gas wird jedoch nicht nur zum Heizen benötigt, sondern auch für die Stromerzeugung. Gaskraftwerke produzieren hierzulande 12 Prozent des Stroms. Sie werden vor allem dann hochgefahren, wenn die Erneuerbaren schwächeln, also wenn weder der Wind weht noch die Sonne scheint. Solche „Dunkelflauten“ treten vor allem in den Wintermonaten auf, und die entstehende Stromlücke lässt sich besser mit Gaskraftwerken überbrücken, weil Kohle- oder Kernkraftwerke dafür zu träge sind. Sie eignen sich eher dafür, die Grundlast zu tragen.
„In Zukunft werden sogar mehr Gaskraftwerke gebraucht“, meint Stolten. Das hat zwei Gründe: Zum einen wird der Stromverbrauch in den kommenden Jahren steigen, weil mehr Menschen ein Elektroauto fahren oder mit einer Wärmepumpe heizen. Das Energiewirtschaftliche Institut Köln (EWI) erwartet bis 2030 einen Mehrbedarf von 24 Prozent. Zum anderen hält die Politik am Ausstieg aus Kohle und Kernenergie fest – bei einem massiven Ausbau der Erneuerbaren. Schon 2030 sollen 80 Prozent des Stroms grün erzeugt werden, gut doppelt so viel wie heute, steht im „Osterpaket“ der Bundesregierung. Für 2035 wird sogar eine Quote von 100 Prozent angepeilt. Das alles kann zu Engpässen in der Stromversorgung führen, die Backup-Gaskraftwerke dann schließen müssen.
Umstieg auf Biomethan oder grünen Wasserstoff
Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, verfeuern Gaskraftwerke in Zukunft jedoch nicht mehr Erdgas, sondern Biomethan oder grünen Wasserstoff. Vor allem auf Wasserstoff ruhen große Hoffnungen. Denn dank Wasserstoff soll die Energiewelt von morgen komplett ohne Erdgas und andere fossile Energieträger auskommen. Theoretisch ist das möglich, haben die Forscher in Jülich mithilfe eines Computermodells nachgewiesen. In ihrem Szenario bilden Wind (34 Prozent), Sonne (22 Prozent) und Biomasse (20 Prozent) die Säulen der Primärenergieversorgung, ergänzt durch Wasserstoff (15 Prozent). Sonstige Quellen wie Wasserkraft und Geothermie tragen 8 Prozent bei, zudem sind geringfügige Stromimporte (weniger als 1 Prozent) nötig. Allerdings hat man weitreichende Annahmen gemacht, zum Beispiel einen 30 Prozent geringeren Energieverbrauch und umfangreiche Wasserstoffimporte. Schnell geht der Umbau in keinem Fall: Als Datum für das Szenario „Null Fossile“ geben die Forscher das Jahr 2045 an.
Dass sich Deutschland schnellstmöglich vom Gas verabschieden muss, ist in der Politik nahezu Konsens. In ihrem Arbeitspapier „Ein Turbo für die Erneuerbaren“ forderte die CDU schon vor der Bundestagswahl den Umstieg auf Sonne, Wind und Biogas, außerdem befürwortet sie mehr Sektorkopplung und Wasserstoff-Wirtschaft. Nur bei der Frage, wie lange die Kernenergie noch zur Stromerzeugung beitragen soll, gab es Dissens. Die Regierung hat die Laufzeit der letzten drei Meiler zwar bis zum 15. April 2023 verlängert, will sie danach aber definitiv abschalten. Die CDU dagegen fordert einen Weiterbetrieb bis Ende 2024. Energiepolitisch komplett gegen den Strom schwimmt nur die AfD: Sie will die Gaspipeline Nord Stream 2 instand setzen und alte Kernkraftwerke wieder in Betrieb nehmen.
Unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der EU
Innerhalb der EU gehen die Vorstellungen darüber, woher künftig die Energie kommt, weiter auseinander. Polen zum Beispiel plant eine eher gemächliche Energiewende. Während Deutschland im Jahr 2030 schon 80 Prozent des Stroms grün erzeugen will, peilt der kohlereiche Nachbar nur 23 Prozent an. Zudem will Polen in die Kernkraft einsteigen und bis 2043 insgesamt sechs Meiler errichten. Ebenfalls auf mehr Atomstrom setzt Frankreich, das sechs – vielleicht sogar acht – neue Reaktoren bauen will. Von der Windkraft an Land dagegen hat sich die Regierung Macron überwiegend verabschiedet; stattdessen sollen Photovoltaik und Windparks auf See Vorrang bekommen.
Den geplanten Erdgas-Ausstieg hat die Bundesregierung nach der Ukraine-Invasion deutlich vorverlegt. Schon 2035, also in 13 Jahren, soll es bei der Stromversorgung ohne fossile Energieträger gehen. Zu ambitioniert, urteilen die meisten Experten. Denn nichts, was mit Energie zu tun hat, geht schnell. Deutsche-Bank-Analyst Heymann verweist auf den Primärenergieverbrauch: „In den letzten 30 Jahren ist der Anteil der fossilen Energieträger nur um knapp 10 Prozentpunkte auf 78 Prozent gesunken. Eine komplette Abkehr in kurzer Zeit erscheint unrealistisch.“
In naher Zukunft sei kein Abschied vom Gas möglich, meint auch Energieexperte Trepte von PwC. „Wir brauchen weiter eine konventionelle Reserve.“ Der Anteil der Kohle am Energiemix könne kurzfristig sogar noch steigen, sollte im April wirklich das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet werden. „Erst wenn 2030 die Braunkohle wegefällt, kommt mehr Bewegung in den Energiemix, weil das wegfallende Gas dann nicht mehr über Kohle kompensiert werden kann“, erwartet Trepte. Um auf Gas verzichten zu können, müssten zunächst die Stromnetze ausgebaut werden. „Schon heute können 5 Prozent der EE-Anlagen ihre Leistung wegen fehlender Leitungskapazitäten nicht ins Netz einspeisen.“
Zu wenig grüner Wasserstoff verfügbar
Und das ist nur ein Hindernis von vielen. Grüner Wasserstoff zum Beispiel steht bisher nur in geringen Mengen zur Verfügung. Die weltweite Jahresproduktion liegt bei 1,2 Millionen Tonnen, Deutschland allein bräuchte das Zehnfache, um klimaneutral zu wirtschaften, schätzen Experten. Fraglich ist auch, wer die neuen Gaskraftwerke baut. Denn wirtschaftlich könnte sich das kaum lohnen: Je mehr die Erneuerbaren beitragen, desto größer werden die potenziellen Lücken, die ein Backup-Kraftwerk schließen muss. An einigen Tagen müsste es enorme Strommengen liefern – und würde den Rest des Jahres stillliegen. Bei den heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein Problem: „Irgendwann gibt es keinen Business Case mehr“, wendet Ökonom Heymann ein.
Doch diese Probleme seien lösbar, meint Experte Stolten vom Forschungszentrum Jülich. Allerdings mahnt der Wissenschaftler zur Eile. „Im Moment bewegt sich zu wenig.“ Stolten rechnet vor: Soll sich ein Produkt bis 2045 durchgesetzt haben, muss es 2035 fertig sein, was wiederum nur funktioniert, wenn die Entwicklung 2025 beginnt. Das gelte auch für den Abschied von den Fossilen. Man müsse sofort mit dem Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur beginnen und die Sektorkopplung vorantreiben. „Sind wichtige Techniken bis 2025 nicht in der Markteinführung, wird es schwierig, die Ziele für 2045 zu erreichen“, mahnt Stolten.