Debate: Sie vertreten die These, dass die Verkehrswende als gesamtgesellschaftliche Transformation stattfinden muss. Was genau meinen Sie damit?
Jutta Deffner: Bei der Verkehrswende geht es nicht darum, etwa nur neue Technologien, Verkehrsmittel und Energieträger einzusetzen, sondern wir müssen das gesamte Setting verändern, damit sie gelingt. Natürlich müssen sich Infrastrukturen und Angebote verändern, aber es setzt auch voraus, dass wir uns zum Beispiel nicht nur 47 Millionen Kfz als Elektroautos denken, sondern dass wir einen Wandel insgesamt brauchen. Es müssen neue Praktiken entstehen. Die Fragen lauten: Wie wird Verkehr und Mobilität multimodal geplant, also so, dass wir verschiedene Verkehrsmittel kombinieren? Wie können die alltagstauglich genutzt werden? Und welche Bedeutung geben wir verschiedenen Mobilitätsformen?
Die Deutschen scheinen ihr eigenes Auto zu lieben. Ist das ein Mindset, das man ändern muss?
Tatsächlich ist es so, dass Strukturen geschaffen worden sind, die uns sehr autoabhängig machen. Wenn es darum geht, vom Auto wegzukommen, entsteht ein differenziertes Bild – nämlich die Multimodalität. Wir brauchen einen größeren Umbau. Der muss natürlich auch in den Köpfen stattfinden.
Wie viel Einfluss habe ich als Einzelner auf das Voranschreiten der Verkehrswende?
Die Strukturen ändern sich nicht, wenn sich das Verhalten nicht ändert, aber man darf auch nicht die Illusion haben, dass wir als Individuen eine sehr starke Wirkmacht haben. Menschen, die in Städten leben, haben allerdings schon jetzt sehr viel Möglichkeiten, sich multimodal fortzubewegen. Sie können laufen und Rad fahren, was wir „aktive Mobilität“ nennen, dazu stehen ihnen ein guter ÖPNV sowie Car- und Bikesharing- und Mikromobilitäts-Angebote zur Verfügung wie beispielsweise E-Scooter und E-Vespas, mit denen sie kürzere Distanzen zurückzulegen können.
Und unabhängig von der Raumstruktur?
Unabhängig von der Raumstruktur kann jeder und jede für sich den Vergleich machen: Das Auto ist für viele Zwecke zwar sehr komfortabel, löst aber auch Stress aus, weil man zum Beispiel einen Parkplatz suchen muss und im Stau steht. Jeder kann sich fragen: Was passiert, wenn ich mal etwas anders mache und welche Gewinne habe ich davon? Es gibt ja viele Vorteile: Manchmal brauche ich zwar ein bisschen länger, habe aber schon die Zeitung gelesen oder mein Fitnessprogramm integriert. Es geht gar nicht nur immer darum, ob das Auto das schnellste oder scheinbar kostengünstigste ist.
Wie verändert man denn die Einstellung der Gesellschaft?
Das ist selbstverständlich nicht leicht. Das Einladen zum Experimentieren funktioniert gut. Am Beispiel vom E-Bike kann man das sehr gut verdeutlichen. Es ist der Erfolgsbringer in der E-Mobilität. Dafür bedurfte es keiner Förderprämie und keiner großen Kampagnen. Das ist von selbst passiert, z.B. weil Menschen an ihren Urlaubsorten E-Bikes ausprobieren konnten und diese positive Erfahrung in gelöster Atmosphäre mit in ihren Alltag nehmen konnten. Das haben die Fahrradindustrie und die Tourismusbranche initiiert. Viele Tourismusregionen bieten auch ÖPNV-Tickets an während des Aufenthalts. So etwas könnte man auch für multimodale Lösungen anbieten, inklusive Car- und Bikesharing.
Was kann man noch tun?
Die Neuerungen, die gebraucht werden, müssen auch belohnt werden. Wenn Menschen sich dafür entscheiden, ihr Auto abzuschaffen oder mit dem Rad zur Arbeit fahren, wäre es attraktiver dieses Verhalten zu belohnen. So kann man positive Anreize setzen. Wenn ein bestimmtes Verhalten nicht erwünscht ist, sollte es entsprechende Signale geben, die es unattraktiv machen.
Haben Sie da ein konkretes Beispiel?
Wir gewähren dem Auto innerhalb von Siedlungen sehr viel Platz – egal, ob es steht oder fährt. Wenn dieser Flächenanteil reguliert werden soll, muss das Parken im öffentlichen Straßenraum verknappt und teurer werden.
Wie entscheidend sind Emotionen bei der Verkehrsmittelwahl?
Sehr wichtig. Am Beispiel der Autoindustrie: Hier werden Emotionen verkauft. Ein Fahrzeug soll eigentlich zum Transport von vier bis fünf Personen verkauft werden, verkauft wird aber die Emotion, dass ich auf leeren Straßen in großen Landschaften Freiheit genieße. Dieses Versprechen hat mit dem Alltag nicht viel zu tun.
Ändert sich die Einstellung zum Auto bei den jungen Leuten?
Ein Drittel aller Haushalte in den Städten hat heute schon kein Auto, nicht nur aus rein ökonomischen Gründen. In der jüngeren Generation bei den unter 30-Jährigen gilt das Auto kaum noch als Statussymbol, und der funktionale Wert ist nicht mehr zwangsläufig mit dem Besitz eines Fahrzeuges verbunden. Das ist der Schlüssel: Es geht bei der Verkehrswende nicht darum, das Auto aus der Welt zu schaffen. Es geht darum, sinnvolle Nutzungskonzepte zu finden, die es ermöglichen, das Auto dort einzusetzen, wo es einen hohen Nutzen hat – ohne es zu besitzen.
Jetzt sprechen wir von der Stadt. Wie sieht es in ländlichen Gebieten aus?
Die individuelle Verhaltensänderung ist sehr beschwerlich, solange die Struktur nicht da ist. Eine gleichzeitige Qualitätsverbesserung im ÖPNV in Kombination mit Sharingangeboten und attraktiven Infrastrukturen für aktive Mobilität sind wichtig. Das bedeutet auch, dass auf politischer Ebene die Entscheidung getroffen wird, dass in ein solches Angebot auch in ländlichen Gebieten mehr Geld fließen muss.
Sie sagen, z.B. in den Niederlanden und Dänemark ist diese Entwicklung schon sehr viel weiter. Wie lange dauert es Ihrer Meinung nach noch bis die Verkehrswende umgesetzt werden kann und ein Umdenken in den Köpfen stattfindet?
Die nächsten zehn Jahre werden sehr viel Umbruch bringen. Wir sind jetzt schon mittendrin, es wird plötzlich wahrnehmbar, dass sich etwas ändert. Die jungen Menschen in Großstädten praktizieren das schon und erleben, dass sie gar kein eigenes Auto brauchen, um ihre Mobilitätswünsche umzusetzen. Ihre Mobilitätssozialisierung geben sie auch weiter. Die Sozialisierung ist ein maßgeblicher Faktor. Wenn Kinder in einer Struktur aufgewachsen sind, in der es normal ist, dass es zwei Autos gibt, werden sie das später vermutlich fortsetzen wollen, weil sie das so gewohnt sind. Es gibt natürlich Menschen, die Angst haben, dass ihn etwas weggenommen wird. Wenn ein Quartier verkehrsberuhigt werden soll oder Parkplätze wegfallen, dann entstehen protestähnliche Diskussionen. Das hat mit Verunsicherung zu tun, damit muss sich die Verkehrsplanung auseinandersetzen. Manche Änderungen müssen schnell gehen, damit Menschen begreifen können, um welche Art der Verbesserung es geht.
Wie sieht der Verkehr in zehn Jahren aus?
Gut wäre es, wenn es eine bunte Mischung aus Privat- und Kollektivverkehr, aus Fuß- und Fahrradverkehr und Kleinst- und Klein-E-Fahrzeugen gäbe. Insgesamt weniger motorisierte Fahrzeuge.
Warum haben so viele Familien zwei Autos?
Viele der Mehr-Auto-Haushalte haben einen Firmenwagen. Man muss wissen, dass etwa 60 Prozent der Neuwagenzulassungen dienstlich angemeldete Fahrzeuge sind. Das ist eine unheimliche Anreizstruktur, die sich ändern muss. Es werden dabei in der Tendenz größere Fahrzeuge gewählt, als wenn Menschen sich das Auto rein privat kaufen würden. Die SUV-Welle hat sehr viel mit dieser Struktur zu tun.
Was kann ich als Einzelner noch tun – außer meine Mobilitätsroutinen zu ändern?
Sie können im positiven Sinne über die Verkehrswende diskutieren, im Familienkontext, im Bekanntenkreis, der Nachbarschaft.